„Endlich dürfen wir“, sagt der Kerl gleich rechts von mir.
„Was?“, frage ich gedankenverloren.
„Na, abheben und ins Paradies fliegen: Sommer, Sonne, Strand und Meer.“
„Stimmt“, entgegne ich und versuche zu lächeln, „endlich ins Paradies.“
Während das Flugzeug langsam zur Startbahn rollt, merke ich, wie um mich herum alles ruhiger wird. Die Kabine der Boeing 737 ist abgedunkelt und vom Horizont aus scheinen die letzten Sonnenstrahlen des Tages hinein. Es ist fast so, als hätte draußen jemand die schwache Terrassenbeleuchtung angeknipst, damit die Katze noch ihren Weg nach Hause findet. Ein unsinniges menschliches Bedürfnis, denn ihre Augen können natürlich besser mit der Dunkelheit umgehen als die des Menschen, aber wir schließen von uns immer gerne auf andere.
Die Ruhe um mich herum wirkt gespenstisch, so als würden die Passagiere dem Piloten die nötige Ruhe geben wollen, damit er sich komplett auf seinen Start konzentrieren kann. Das sind bestimmt die gleichen Typen, die beim Rückwärtsfahren das Radio leiser machen. Paradox. Ebenso wie die Tatsache, dass wir Menschen quer um die Erde reisen möchten, dafür kaum etwas zahlen wollen, aber dann Angst vor dem Fliegen haben. Die extreme Leichtbauweise der heutigen Flugzeuge ist doch genau diesem Billigwahn geschuldet. Aus dem stählernen Vogel von einst ist ein fliegender Joghurtbecher geworden, der vorwiegend aus Glas- und Kohlenstofffasern besteht, die mit Kunstharz verstärkt werden.
Während ich noch über die paradoxen Lebensgewohnheiten und Ängste der Passagiere nachdenke, heulen die Triebwerke auf und das vormals sanfte Rollen weicht einem straffen Rütteln. Kurz frage ich mich, warum sich die Piste immer mehr nach Feldweg, als nach asphaltierter Start- und Landebahn anfühlt. Der Gedanke weicht aber schnell dem Gefühl des abhebenden Fliegers, bei dem der Hintern, aber noch viel mehr der Magen tief in den Sitz gedrückt werden. Vielleicht ist das Fliegen auch nur eine der Prüfungen, die wir auf dem Weg ins Paradies zu überstehen haben. Noch während die Maschine an Höhe gewinnt, wende ich mich meinem Sommer-Sonne-Sitznachbarn zu und frage ihn ein wenig ketzerisch: „Sind Sie gläubig?“
Er dreht seinen Kopf ruckartig in meine Richtung und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sein vormals schon fahles Gesicht scheint nun noch blasser.
Ich kichere in mich hinein, denn genau diese Reaktion hatte ich erwartet. „Sie haben vorhin vom Paradies gesprochen. Hat das mit Ihrem Glauben zu tun?“
„Ich, ähm, also ich …“, entgegnet er so zielsicher, wie ich erwartet habe.
„Welche Bedeutung hat das Paradies für Sie? Ist das ein bestimmter Ort oder mehr ein Gefühl?“, versuche ich es noch einmal. „Ist das Paradies für Sie heute auf den Kanaren und morgen in Asien oder bleibt der Ort immer gleich?“
Sein Gesicht scheint wieder zum Leben zu erwachen und ich sehe, wie er sich über meine Frage wirklich Gedanken macht. „Ich finde, das Paradies ist überall dort, wo es schön ist.“
„Ist es denn zu Hause nicht schön?“
„Doch! Natürlich!“
„Warum fliegen Sie dann weg?“
Kleinlaut gibt er zu: „Vielleicht ist es doch mehr ein Gefühl. Eine Sehnsucht, dort zu sein, wo es besonders schön ist und ich sonst nicht sein kann. Wenn ich lange genug weg war, ist das Nachhausekommen dann auch wieder paradiesisch.“
„Vielen Dank für den Einblick, da war ich jetzt wirklich neugierig. Ich finde den lapidaren Umgang mit diesem bedeutungsvollen Wort schon seit einiger Zeit befremdlich. Bei drei großen Weltreligionen hat die Sehnsucht nach dem Paradies oder Himmel häufig zu Kriegen geführt und Menschenleben gekostet.“ Es tut mir fast leid, ihn damit konfrontiert zu haben, aber dieses Thema lässt mir selten Ruhe.
„Da haben Sie recht. Sie scheinen sich bestens darin auszukennen. Sind Sie Theologe oder so etwas in der Art?“
„So etwas in der Art“, entgegne ich knapp.
Scheinbar hat ihn die Neugier gepackt und nun fragt er mich im Gegenzug: „Was bedeutet das Paradies denn für Sie, so als Experte?“
Ich muss in der Tat kurz überlegen, wie ich ihm meine Sicht darstellen kann. Ich antworte: „Im Grunde alles. Wenn ich das Paradies finde, dann wird es ein ganz besonderer Ort sein. Einer, der sich von allen anderen auf der Welt unterscheidet und den ich nicht mehr verlassen möchte. Ich habe lange nach dem Paradies gesucht – in Orten, Menschen und Dingen. Als ich Frieden suchte, folgte Krieg. Als ich die Liebe fand, nahm sie mir eine unheilbare Krankheit. Als ich versuchte erfolgreich zu sein, fiel ich tiefer denn je. In all diesen Prüfungen muss ein Sinn stecken – das Paradies. Meine Sehnsucht weist mir den Weg dorthin.“
„Das klingt unglaublich traurig, aber es ist wunderbar, dass Sie Ihre Zuversicht nicht verlieren. Ich hoffe, dass Sie es finden werden.“
„Das werde ich“, entgegne ich mit einem ehrlich gemeinten Lächeln und wende mich wieder ab.
Ich genieße noch einen Moment den Flug und schaue aus dem Fenster. Wir haben die Wolkendecke unter uns gelassen und langsam entschwinden die letzten Reste des Tageslichts. Die Nacht bricht über uns herein und meine Gedanken weichen gemächlich der Müdigkeit, die gleichzeitig mit einem wohligen Gefühl einher geht. Meine rechte Hand gleitet in meine Hosentasche und ertastet den Gegenstand aus hartem Plastik, den ich kurz vor dem Boarding eingesteckt habe. Er gibt mir in diesem Moment die nötige Ruhe wieder zurück. Suchend gleiten die Finger den schwarzen Schaft entlang und entdecken schließlich den kleinen Knopf am oberen Ende. Noch während ich ihn tief in das starre Gehäuse drücke, denke ich daran, dass die Passagiere ihr Paradies aus Sommer, Sonne, Strand und Meer nicht erreichen werden. Ich hingegen werde mein Paradies und meinen Frieden in dem Moment finden, wenn die dreieinhalb Kilogramm C4, die in der Flugzeugtoilette deponiert wurden, den Rumpf des fliegenden Joghurtbechers wie ein zerspringendes Glas auseinanderreißen. Irgendwie paradox.