Emily - Shortstory

„Warum bist du tot?“ Kinder schnappen viel mehr im Leben auf, als wir uns vorstellen können und daher überraschte mich die Frage meiner Tochter Emily nicht im Geringsten.

„Schatz, ich bin doch nicht tot. Wie kommst du denn darauf?“

„Doch, das hat Mama gesagt.“ Aha, also daher wehte der Wind. Als meine Frau Chloé und ich uns vor fünf Monaten getrennt haben, haben wir versucht unsere Diskussionen und Streitereien auf die Zeit zu verlegen, wenn Emily im Bett war. Aber natürlich bekommt eine Fünfjährige auch während ihrer eigentlichen Schlafenszeit mehr mit, als wir uns eingestehen wollten. Gerade in der Hochphase unserer Streitereien flogen regelmäßig Beschimpfungen durch den Raum. Darunter auch Sätze wie, „ich wünschte du wärst tot!“ oder „für mich bist du gestorben!“

Chloé und ich hatten die Abmachung getroffen, dass ich, wann immer es mir möglich war, vorbeikommen und Emily ins Bett bringen durfte. Für sie sollte die Nähe zu ihrem Papa nicht zu kurz kommen. Immerhin ein Punkt in dem Chloé und ich uns einig waren. Sie ließ mich ins Haus und, während ich mich um Emily kümmerte, konnte sie noch einkaufen und andere Dinge erledigen, zu denen sie sonst keine Zeit fand.

Und so saß ich neben Emily auf ihrem Bett, während sie ihre Puppe kämmte und mich keines Blickes würdigte. Dabei trug sie diesen schwarzen, mexikanischen Cowboyhut, den man aus diversen Filmen und Serien kennt und der ihr viel zu groß war. Ein Geschenk, das ich ihr von einer meiner Geschäftsreisen nach Mexico-City mitgebracht hatte. Früher trug sie ihn vor allem dann, wenn ich wieder einmal auf Geschäftsreise war. Auch die Puppe hatte ich ihr von einer meiner Reisen mitgebracht. Sie spielte nicht wirklich mit ihr, meist kämmte sie nur ihr Haar. Chloé war sich sicher, dass es sich dabei um irgendwas Psychisches handelte – eine Art Hilfeschrei aus Emilys Seele. Dieser Hokuspokus war typisch für Chloé und auch einer der Gründe für das Ende unserer Beziehung. Ich war mir sicher, dass Kinder auch einfach ihre eigenen Angewohnheiten entwickeln – andere haben Kuscheltiere oder Kuscheldecken, Emily hat das Kämmen.

„Glaub mir, ich bin nicht tot. Das hast du falsch verstanden,“ versuchte ich zu erklären.

„Aber Mama hat gesagt, dass du gestorben bist.“ Emilys Tonfall wirkte fast ein wenig genervt, aber ich wollte das so nicht stehen lassen.

„Ich weiß, Mama und ich haben damals viele schlimme Dinge gesagt, aber das passiert, wenn man sich nicht mehr genug liebhat. Dafür haben wir beide dich aber umso mehr lieb“, versuchte ich zu erklären und die Situation zu retten.

„Das weiß ich, aber warum bist du dann nicht mehr da?“

„Aber das weißt du doch. Ich wohne jetzt ein paar Straßen weiter in der Miller Road und dazu muss ich auch immer noch auf Geschäftsreisen gehen. Dafür bin ich doch jetzt da.“

„Nein, bist du nicht!“ Emily schnaubte und zog sich den Cowboy-Hut tiefer ins Gesicht. Ich versuchte es humorvoll zu nehmen und sagte:

„So tief wie der Hut in deinem Gesicht hängt kannst du mich auch gar nicht sehen. Magst du ihn nicht endlich mal abnehmen?“

„Nein! Nicht, bis du wieder da bist.“ Mit diesen Worten hob Emily ihren Kopf und ich sah in tränenverschleierte, blaue Augen, die scheinbar durch mich hindurchblickten.

„Emily, ich war doch nur zwei Tage weg. Dienstag haben wir uns gesehen und heute ist Freitag – du warst nur zwei Abende ohne mich.“

„Heute ist Sonntag Daddy.“

„Nein, heute ist Freitag“, versuchte ich es richtig zu stellen und drehte mich, trotz aller Sicherheit, zu dem alten Hello-Kitty-Wecker von Chloé um, der seit einigen Monaten auf Emilys Nachttisch stand. Ich konnte es nicht fassen, neben der Uhrzeit prangten drei Buchstaben, die mich für einige Augenblicke das Atmen vergessen ließen: SUN

„Aber das kann doch nicht sein“, meine Stimme war urplötzlich staubtrocken. Ich schaute Emily an, um herauszufinden, ob das ein Streich sein sollte. Aber für Streiche war sie nie der Typ. Besonders in Gesprächen war sie die ernsthafteste Fünfjährige, die ich je kennengelernt habe.

„Wieso steht da Sonntag auf deinem Wecker?“

„Habe ich doch schon gesagt: weil heute Sonntag ist!“

„Ich bin doch vorhin erst gelandet, dann habe ich dir noch ein Geschenk besorgt und anschließend bin ich durch den heftigen Regenguss direkt zu dir gefahren.“

„Dad, heute schien den ganzen Tag die Sonne.“ Ich wandte mich dem Fenster zu und sah, dass die Einfahrt völlig trocken war. Das konnte einfach nicht sein. Nun blickte mich Emily hoffnungsvoll freudig an.

„Du hast mir etwas mitgebracht? Was denn?“

„Ja, natürlich, ich habe… Moment, wo habe ich es denn?“ Ich bringe Emily immer etwas mit, doch gerade erinnerte ich mich nicht mehr, was ich heute besorgt hatte.

„Hatte ich nicht etwas bei mir, als ich vorhin reingekommen bin?“

„Du bist nicht reingekommen.“

„Wie meinst du das?“ Emilys Aussagen machten mir heute wirklich Sorgen. Sie war zu ihrer Ernsthaftigkeit zwar auch eine Träumerin, aber so unaufmerksam war sie noch nie. Wobei ich auch gerade keine Bilder mehr im Kopf hatte wie ich ins Haus gelangt bin – von Emilys Geschenk ganz zu schweigen. War ich in einer Zeitkapsel gefangen oder habe ich 48 Stunden durchgeschlafen? Das konnte ja nicht sein.

„Ich meine, dass du einfach plötzlich da warst – obwohl du gar nicht da bist.“

„Ich kann doch schlecht da sein und gleichzeitig nicht da sein“, versuchte ich Emily zu erklären.

„Drück mich mal, dann wirst du sehen, dass ich da bin.“ Ich drehte mich um und umarmte Emily noch bevor sie sich bewegen konnte. Zumindest versuchte ich das. Ich konnte Emily einfach nicht greifen, so oft ich es auch probierte.

„Das ist kalt Daddy”, unterbrach mich Emily mit einem fröstelnden Schulterzucken.

“Emily, was ist hier los?” In mir fühlte ich diese Mischung aus Angst und Verständnislosigkeit aufsteigen.

„Mama sagte, du hast einen Unfall gehabt und bist gestorben.”

“Einen Unfall gehabt - aber wie...?” Auf einmal durchzuckte ein Blitz voller Bilder meinen Kopf. Schwindelig vor Erkenntnis und Unglaube zugleich, sackte ich auf dem Bett zusammen. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Es war zwei Tage her, als ich von meiner letzten Geschäftsreise aus Indien zurückkam. Mein Flieger war mit erheblicher Verspätung gelandet und ich hatte noch kein Reisegeschenk für Emily besorgt. Aus Angst die Öffnungszeiten des Spielwarenladens in der Mall auf dem Heimweg zu verpassen, ignorierte ich im Auto fast sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen. Im Vorort in dem Emily und Chloé lebten war das Verkehrsaufkommen überschaubar. Ich musste nur noch vom Zubringer auf die Hauptstraße abbiegen und dann waren es nur noch wenige hundert Meter bis zur Mall. Völlig in Gedanken und unter Zeitnot übersah ich dabei den LKW, der sich von links auf der Hauptstraße näherte und Vorfahrt hattes. Als ich das Hupen wahrnahm, war es bereits zu spät. Das Geräusch vermischte sich mit einem metallischen Knirschen, das so laut war, wie ich es in meinem Leben zuvor noch nie wahrgenommen hatte. Danach war alles schwarz.

Ich hatte keine Ahnung wie ich in das Zimmer von Emily gelangt war und in diesem Moment raubten die Informationen mir alle Sinne. Falls ich so etwas überhaupt noch besaß, dachte ich leicht belustigt. Ich musste auf jeden Fall erst einmal mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht schütten. Ich stand auf, ging ins Bad das direkt neben dem Zimmer von Emily lag. Ich betätigte den Lichtschalter und das gleißend helle Licht durchzuckte meine Augen wie der nächste Blitz. Aus dem Zimmer hörte ich Emilys Stimme. Ich drehte mich zu ihr um und sah, wie sie in meine Richtung blickte, mir winkte und den Cowboyhut vom Kopf zog. Während mich das Licht verschlang, hörte ich sie rufen: 

„Mach’s gut Daddy.”